ZEITUNG IN DER SCHULE | Samstag, 15. Dezember 2001 |
![]() | |
Bayern Seite V2/6 / Deutschland Seite V2/6 / München Seite V2/6 |
Joschka Fischer zu Besuch in Ungarn
Problemlose Beziehungen zu Ungarn
Der deutsche Außenminister eröffnet den Neubau der Deutschen Schule in Budapest
Auf dem "Schwabenhügel" wird Deutsch gesprochen. Doch dieser Hügel liegt in Ungarn. Genauer: In Budapest. Hier, in einer der besten Wohngegenden der Stadt, umgeben von Villen, befindet sich der Neubau der Deutschen Schule. Und bei der Einweihungsfeier am 1.Dezember 2001 reden hier der ungarische Staatspräsident Ferenc Mádl und Außenminister Joschka Fischer vor zahlreichen Gästen; beide sprechen Deutsch.Fischer: "Meine persönliche Beziehung zu Ungarn wird gerade hier deutlich: Ich habe auf der anderen Seite dieses Hügels, in Budakeszi, familiäre Wurzeln, auch wenn ich in Baden- Württemberg geboren und aufgewachsen bin. Was ich meiner Mutter vorwerfe, wenn diese Kritik in der Öffentlichkeit erlaubt ist, dass ich nicht zweisprachig aufgewachsen bin..."
Auch Ferenc Mádl ist ungarndeutscher Herkunft. Hier sprechen also zwei Politiker, die die guten, engen Beziehungen beider Länder geradezu verkörpern.
Fischer ist zwei Tage in Ungarn. Auf dem Programm: Deutsch-ungarisches Forum; Gespräche mit Ministerpräsident Orbán und dem Oppositionskandidaten Medgyessy. Außerdem die Einweihung des Neubaus der deutschen Schule und des neuen deutschen Botschaftsgebäudes in Budapest.
Beim Festakt in der deutschen Schule ist die Aula überfüllt, zahlreiche Ehrengäste sind dabei: Neben Mádl und Fischer auch der ungarische Bildungsminister József Pálinkás, der Stuttgarter Staatsminister Christoph Palmer, der deutsche Botschafter Wilfried Gruber, Oberbürgermeister Gábor Demszky aus Budapest und viele andere.
Ungarn, Budapest, Deutschland und Baden-Württemberg haben diese Schule 1990 gegründet; gestartet wurde mit zwei Klassen, 23 Schülern und drei Lehrern. Nun sind es 20 Klassen, 420 Schüler und 42 Lehrer. Für den Neubau der Schule war eine Gesamtinvestition von 16.100.000 DM erforderlich.Ferenc Mádl freut sich, dass den Abiturienten dieser Schule die Universitäten in Deutschland und Ungarn offenstehen. Sein Dank geht an alle, die dieses Projekt ermöglicht haben.Joschka Fischer betont, dass Deutschland mit großer Dankbarkeit an Ungarns Rolle beim Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Vereinigung denkt. Auch deshalb werde "Deutschland alles tun, damit Ungarn in wenigen Jahren der EU beitreten kann". Die deutsche Schule sei ein europäisches Projekt, denn "die junge Generation ist eine europäische Generation, das Erlernen von Fremdsprachen deshalb besonders wichtig."
Nach der Einweihungszeremonie wird deutlich, wie sehr diese europäische Idee schon verwirklicht ist: Im August 2000 hatte unsere SZ- Arbeitsgruppe um ein Interview mit Joschka Fischer gebeten. Und jetzt sprechen wir Schülerinnen aus dem südungarischen Weltdorf Gyönk in der Deutschen Schule Budapest mit dem deutschen Außenminister ungarndeutscher Herkunft für Leser der Süddeutschen Zeitung. Gut zwanzig Minuten nimmt sich der Außenminister exklusiv für uns Jugendliche Zeit. Auch Franciska Farkas und Teodóra Mydlo von der Schülerzeitung der Deutschen Schule kommen dazu. Wir sprechen Deutsch. Aber wer weiß: Wenn Ungarisch bald offizielle EU-Sprache ist, dann wird vielleicht Joschka Fischer sogar seine (zweite) Muttersprache lernen.
Köszönöm szépen és minden jót, miniszter úr!
Réka Fekete,
Mariann Simigh,
Eva Vereckei,
Gymnasium Tolnai Lajos
Gyönk/Ungarn
Prominenz bei der Eröffnung des Neubaus der Deutschen Schule in Budapest: Der deutsche Außenminister Joschka Fischer mit dem ungarischen Bildungsminister József Pálinkás (l.) und dem ungarischen Staatspräsidenten Ferenc Mádl (2.v.l.) beim Durchtrennen des Bandes.
Foto: Gerald Hühner
Sympathie und ein Niveau, das man sich nur wünschenkann!
Joschka Fischer im ZISInterview zudeutsch-ungarischen Fragen
Hätten Sie sich als Schüler vorstellen können, eine deutsche Schule in Budapest zu eröffnen?
Nein! Ich habe Schule immer gehasst! Das sage ich ganz offen. Allerdings war das auch eine andere Schule als diese hier. Das war ein Backsteinbau, eine Unterrichts-Anstalt; es war wirklich eine andere Schulzeit in den 50er und 60er Jahren!
Von welchen Vorstellungen lassen Sie sich in Ihrer politischen Arbeit leiten?
Dies sind die Grundsätze der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Verantwortung. Dass diese Arbeit in der Gegenwart sehr sehr schwer ist, kann man an den jüngsten Auseinandersetzungen um die deutsche Beteiligung im Afghanistan-Konflikt sehen.
Wie sehen Sie die deutsch-ungarischen Beziehungen?
Schwierigkeiten sehe ich, Gott sei Dank, keine. Das große Thema ist der Beitritt Ungarns und anderer Kandidatenländer zur EU. Wir können fest davon ausgehen, dass auf der Grundlage des letzten Kommissionsberichts die Zeitperspektive 2004/2005 mit hoher Wahrscheinlichkeit eingehalten wird. Wir sehen keine Gefahr künstlicher Verzögerungen und werden alles tun, um zu einem erfolgreichen Abschuss zu kommen.
Was sollte man in Deutschland über Ungarn wissen?
Es gibt in weiten Teilen Deutschlands eine tiefe Sympathie, auch und gerade in den neuen Bundesländern: Für viele Landsleute in der damaligen DDR waren Budapest und Prag sozusagen der halbe Westen, das war ein Stück des Traumes, den man hatte. Heute ist der Tourismus zwischen Ungarn und Deutschland sehr gut. Auch Ungarn kennen Deutschland durch jahrelangen Aufenthalt oder als Besucher. Der Austausch auf der wissenschaftlich kulturellen Ebene ist sehr eng, wenn ich nur an György Konrád denke, der jetzt in Berlin die Akademie leitet, in der Intellektuellen-Szene Deutschlands ein großer Name ist, ja auch den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen hat. Die Wirtschaftsbeziehungen sind ebenfalls exzellent. Wir haben also eher das Problem, dass es keine Probleme gibt und das Selbstverständliche und die positive Emotion die Beziehungen bestimmen.
Wie erklären Sie sich, dass für die Deutschen Ungarn der beliebteste EU-Beitrittskandidat ist?
Mit diesen Selbstverständlichkeiten. Man sollte das in Ungarn nicht als Zurücksetzung begreifen, dass es so selbst-verständlich ist, sondern das zeigt ein Niveau von Beziehungen, das man sich nur mit allen anderen auch wünschen kann.
Wann wird Ungarn EU-Mitglied sein?
Das müssen die Kommission und der Rat entscheiden. Nizza und Göteborg haben die Erwartungen ausgedrückt und sogar den Auftrag erteilt, alles dafür zu tun, damit die ersten Beitrittsländer im Frühsommer 2004 bei der Europa-Wahl mitwählen können, wenn sie dann beigetreten sind. Das hieße, die Verhandlungen müssten 2002 abgeschlossen werden, damit in einem Jahr dann die Ratifizierung in den nationalen Parlamenten oder durch eine Volksabstimmung stattfinden kann. Ungarn liegt da in der Spitzengruppe.
Viele Menschen haben Angst, dass durch den EU-Beitritt die nationale Identität verloren geht.
Diese Angst muss man ernst nehmen, aber sie entspricht keiner Realität: Wir haben jetzt seit 1957 die römischen Verträge, wir haben die europäische Erfahrung. Die Luxemburger sind Luxemburger geblieben, die Niederländer Niederländer. Nirgendwo sieht man, dass die Identität durch die EU gefährdet ist. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Interessen der Kleinen ein größeres Gewicht haben, als wenn es die EU nicht gäbe. Die Ungarn werden Ungarn bleiben!
Welche Rolle spielt die Kultur in den internationalen Beziehungen und speziell zwischen Ungarn und Deutschland?
Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, wobei die Beziehungen zwischen unseren Ländern immer mehr Teil der europäischen Innenpolitik werden. Die Beziehungen waren schon immer sehr eng, es gibt die Donauschwaben, die, die nach 1946 Ungarn verlassen haben, und ein Bindeglied vor allen Dingen mit Süddeutschland sind. Seit 1989 ist es noch viel besser geworden. Wir würden uns wünschen, dass die Frage des deutschen Spracherwerbs noch eine größere Rolle in Ungarn spielt, auch wenn das Englische die Universalsprache im 21. Jahrhundert geworden ist.
Gibt es Bestrebungen zur Angleichung der Schulsysteme auf EU- Ebene?
Nein, das hielte ich für falsch. Wir müssen die Anerkennung von Abschlüssen erreichen; da komme ich zu den unterschiedlichen Bildungstraditionen eines Volkes. Auf französisch würde ich sagen: "Vive la différence!" Diese europäische Vielfalt könnte in der Zukunft durchaus einen großen Vorteil haben. Man sollte also die Differenz kennen lernen, aushalten und nutzen.
Dokumentation des Gesprächs:
AG Zeitung in der Schule
Gymnasium Tolnai Lajos
Gyönk/Ungarn
Joschka Fischer mit Franciska Farkas und Teodóra Mydlo von der Deutschen Schule Budapest und den ZIS-Redakteurinnen Eva Vereckei, Mariann Simigh und Réka Fekete des Gymnasiums Tolnai Lajos (v.l.n.r.).
Foto: Gerald Hühner