Im Rahmen der Projekte mit der Süddeutschen Zeitung
und "Jugend-Schule-Wirtschaft" mit der Népszabadság waren Gyönker Projektteilnehmer am
31.Oktober 2002 zum Interview mit dem ungarischen Bildungsministers, Dr. Bálint Magyar,
eingeladen.
Das Gespräch zu den Themen: PISA-Studie, EU-Beitritt Ungarns und
"Was darf/muß Bildung kosten?" fand im Büro des Ministers statt.
Teilnehmer aus Gyönk waren: Imre György, Timea Horváth, Gerald Hühner, Anett Jagicza,
Anett Lekner, Mariann Simigh und Eva Vereckei.

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Fotos zum Interview:

Gespräch am runden Tisch im Büro des Ministers:






























Sitzprobe am Schreibtisch des Ministers für Eva Vereckei:
- Mit (v.l.): Anett Lekner, Anett Jagicza, Dr. Bálint Magyar, Mariann Simigh, Timea Horváth, Imre György -














Fotos: Gerald Hühner



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Das publizistische Ergebnis des Interviews erschien in der JSW-Projektzeitung
"Népszabadság" in ungarischer Sprache (25.11.2002) und in der
NEUEN ZEITUNG - Ungarndeutsches Wochenblatt - (Nr. 51-52/2002):

Im Sessel des Ministers

- Interview mit dem ungarischen Bildungsminister Dr. Bálint Magyar -


Wie kommt man eigentlich auf den Sessel eines Ministers? Gut: Man macht politische Karriere, so wie Bálint Magyar (50), von 1996 - 1998 und seit dem Frühjahr 2002 wieder als Minister für Bildung in Ungarn verantwortlich. Gut, das ist die traditionelle Methode. Die andere: Man macht, wie wir, seit Jahren interkulturelle Medienarbeit, bittet den Minister um ein Interview für die Süddeutsche Zeitung und landet am Ende für ein Foto hinter seinem Schreibtisch. Budapest, 31.Oktober 2002: Wir werden im Büro des Ministers empfangen, es gibt Getränke, dann kommt der Minister auf uns zu, locker, offen, auskunftswillig.

Hängt das mit seiner schulischen Laufbahn zusammen, dass er uns so nahe ist?

Als Schüler und Kind, erzählt er, war er so eine Art "Revoluzzer". Hat zwar relativ leicht
gelernt, konnte sich aber scheinbar nicht benehmen, denn es gab viele Einträge im
Klassenbuch. Seine Lieblingsfächer: Geschichte, ungarische Sprache, Geographie.
Er studiert später Soziologie und Geschichte und meint heute: "Von Beruf bin ich
Soziologe und sehe das Amt des Bildungsministers auch als soziologische Aufgabe.

Was hätte der Minister als Schüler damals sofort verändert? Magyar: "Schüler wollen
das Schulsystem ja meistens nicht verändern, sondern ganz verlassen. So war das auch
bei mir. Ich fand auch viele Chancen und Tricks damals, die Schule zu schwänzen.
Lieber besuchte ich nämlich eine Bibliothek, in der ich dann philosophische Bücher las."

Und was ist heute im ungarischen Bildungswesen zu ändern?
"Das ungarische Bildungssystem hat mit der Zeit nicht Schritt gehalten, es setzt im
Allgemeinen zu sehr auf lexikalische Kenntnisse und geht mit der Zeit der Schüler
zu verschwenderisch um. Es muß viel mehr Zeit bleiben für problemlösendes Denken, für
Kooperation, Team-Arbeit. Während Erwachsene wöchentlich 40 Stunden arbeiten müssen,
haben Schüler unter 18 Jahre 50-60 Stunden wöchentlich zu arbeiten/lernen. Denn da
kommt ja noch das Lernen zuhause und die Nachhilfe-Stunden dazu."


Das ist für uns wirklich sehr belastend. Und das Resultat? Das Ergebnis der
PISA-Studie 2000 war in Deutschland und Ungarn "gleich gut oder schlecht".
"Ja", bestätigt der Minister, " das Ergebnis war in beiden Ländern ähnlich;
aber der Unterschied ist: In Deutschland hat dies einen gesellschaftlichen Schock
ausgelöst. In Ungarn ist eine Reaktion fast ganz ausgeblieben.
Entscheidend für das Ergebnis von PISA waren sicher nicht die kulturellen Traditionen
beider Länder. Nur eine falsche Struktur der Bildung kann solche Ergebnisse verursachen,
durch die die Ausbildung wichtiger Fähigkeiten verhindert wird.
Dieses Ergebnis muß man nicht als Beleidigung des National-Stolzes auffassen.
Sehr viele haben in Ungarn die PISA-Studie kritisiert, um alles bei der alten Ordnung
zu lassen und nichts verändern zu müssen. Da hat man aber die Methode der Studie nicht
anerkannt, weil diese sich von den ungarischen Bildungstraditionen (lexikalische Arbeit)
unterscheidet. "

Was sind die Konsequenzen?

"Es werden Veränderungen durch die Einführung des zweistufigen Abiturs durchgeführt und
zwar in zwei Schritten. Der erste Schritt erfolgt 2005: Das Abitur und die
Aufnahmeprüfung für die Universitaet werden zusammengefasst. Dieses zweistufige Abitur
dient aber nicht nur zur Reduzierung des erforderlichen lexikalischen Wissens, sondern
auch der Förderung von Problemlösungsfähigkeiten der Schüler, der Fähigkeit zu logischem,
selbständigem Denken und deren Prüfung im Abitur."

Ein anderes Thema: Was kann Schule bei der Vorbereitung der Ungarn auf den EU-Beitritt
leisten?
"Grundvoraussetzungen sind, dass man, mindestens eine Fremdsprache so beherrscht, dass man umfangreich kommunizieren kann: Denn in der EU kann man den Unterricht in
ungarischer Sprache nirgends zur Pflicht machen. Außerdem sind Kenntnisse und Nutzung
der neuen Medien sehr wichtig. Darauf kann man dann aufbauen."


Werden die anderen EU-Mitglieder eine Konkurrenz für Ungarn darstellen?
"Na, es werden sich kaum lange Schlangen von Engländern bilden, um ungarische
Arbeitsplätze zu besetzen. Die anderen EU-Länder haben viel größere Angst, dass
ungarische Arbeitzskräfte auf ihre Märkte strömen und die Möglichkeiten der dortigen
Arbeitssuchenden einschränken werden. Für die ungarische Jugend ist der EU-Beitritt
nur positiv zu sehen."

Und wie stellen Sie sich die Schule der Zukunft vor?
"Schwerpunkt ist die Umwandlung des Bildungssystems nach den Anforderungen des
Medienzeitalters: Im nächsten Jahr wird deshalb ein neues Programm gestartet:
"Sulinet-Expressz" (Schulnetz-Express); bis 2004/2005 werden alle ungarischen
Schulen am Netz sein. Unser Ziel ist, bis 2006 einen PC für je 10 Schüler in
einer Schule zu haben. Wir streben auch an, dass die Schüler und Lehrer zuhause
PCs haben und nutzen können. Dafür wird nächstes Jahr eine neue Steuerkonstruktion
eingeführt. Sie soll einen Zugang zu einem digitalen Lehrstoff-Programm öffnen,
das multimediale Bildungsmittel in das Bildungssystem integriert. Lehrer sind dann
nicht gezwungen, den digitalen Lehrstoff selber zu erstellen, sondern können
bestehende Angebote nutzen; denn die Zeit der Lehrer ist genauso wichtig,
wie die Zeit der Schüler; damit darf man auch nicht verschwenderisch umgehen."

Das sehen wir auch so! Herzlichen Dank für das Interview, Herr Minister!
"Ich danke auch und möchte sagen: Ihre deutsch-ungarische Projektarbeit in Gyönk
finde ich sehr gut und sehe sie mit großer Sympathie. Bei den deutschen
Organisatoren und Sponsoren, die diese Arbeit ermöglichen, den Zeitungen und
der Deutsche Bank Stiftung, möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
Besonders freue ich mich aber auch darüber, dass in der Süddeutschen Zeitung
die Arbeiten ungarischer Schüler erscheinen: Über Ungarn werden dadurch
Informationen vermittelt, die unser Land bekannter und attraktiver machen."


Eva Vereckei
Mariann Simigh
S&Z-AG
Gyönk, Ungarn



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Im Rahmen des Projekts mit der Süddeutschen Zeitung
führten Gyönker Schüler 1999 bereits ein Interview mit dem damaligen ungarischen
Bildungsminister Zoltán Pokorni.
Das journalistische Ergebnis wurde publiziert in der Süddeutschen Zeitung:

bse SZonNet - Die Schule auf Reformkurs
ZEITUNG IN DER SCHULESamstag, 20. Oktober 2001
 Bayern Seite V1/20 / Deutschland Seite V1/20 / München Seite V1/20

Die Schule auf Reformkurs

Ungarn interviewen Bildungsminister und erfahren Erstaunliches

Alle Schüler wollen mal das Schulwesen reformieren. Wir haben es zwar auch nicht geschafft, aber wir waren schon ganz nahe dran. Wie? Zunächst haben wir bloß ein Interview mit einem „am Anfang schlechten Schüler“ gemacht, „den man später auch für einen ungehorsamen Buben hielt“. Trotz allem aber hat er etwas geleistet und hat erreicht, wovon andere Schüler nur träumen: Er kann das Schulsystem reformieren!

Jetzt fragen Sie sich wohl, was wir geschafft haben? Zoltán Pokorni, ungarischer Bildungsminister, empfand es als „eine große Ehre, mit den Schüler- Journalisten aus Gyönk ein Interview zu führen“. Der Minister leitet auch die Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen, ist für den Erlass von Verordnungen und für bedeutsame Entscheidung bei prinzipiellen und inhaltlich grundliegenden Fragen zuständig. Er nimmt selbstverständlich an den Sitzungen des ungarischen Parlaments und an der Arbeit der Regierung teil. Wegen seiner knappen Zeit erfolgte unser Interview deshalb „nur“ in schriftlicher Form.

Ein gravierendes Problem in Ungarn ist: Das Abitur wird hier nicht als Berechtigung für einen Studienplatz anerkannt und so muss man noch Fähigkeitstests oder Aufnahmeprüfungen bestehen. Aber bis zum EU-Beitritt bestehe keinerlei Anpassungszwang, „denn die Aufrechterhaltung einer konkurrenzfähigen Bildung ist unser eminentes Interesse und dies ist vom Beitritt abhängig“. Wir müssten natürlich bestrebt sein, die Beitrittsbedingungen auch auf dem Bildungsgebiet zu erreichen und dies bedeute vor allem das Anstreben der Chancengleichheit und die Förderung der sozial- und bildungsschwachen Schichten.

Die Jugend in Ungarn hat sehr unterschiedliche Chancen auf dem Gebiet der Fortbildung, der Berufswahl und beim Ausfindigmachen einer Anstellung, dies hängt auch davon ab, ob sie zu der Land- oder Stadtbevölkerung gehört und welcher wirtschaftlichen und kulturellen Schicht ihre Familie angehört. Es hängt auch ganz viel davon ab, wie viel äußere Unterstützungen jemand zur Änderung seiner Lage erhält. Und hierbei kann dann eine gute Schulbildung eine wesentliche Rolle spielen.

Aber auch auf dem Lande gibt es nach unserem Bildungsminister hervorragende Möglichkeiten: „Wenn ich das Gymnasium in Gyönk von hier, aus der Ferne betrachte, denke ich, dass es schön wäre, wenn alle Gemeindeschulen so arbeiten würden.“ Er hält unser Projekt mit der Süddeutschen Zeitung übrigens für eine gute Initiative.

Wer aber dennoch als ungarischer Schüler Kritik an seinem Schulsystem äußern will, der mache jetzt die Augen auf: Hier ist der Weg, wie man das Schulwesen reformieren kann. „Es hängt vor allem von eurer Entschlossenheit und Initiativfähigkeit ab und davon, ob Ihr die geeigneten Formen für die Vertretung Eurer Interessen findet. Der Rat der Schülerrechte, in dem alle Schulstufen vertreten sind, ist als beratender Verein des Ministers tätig. Aber auch das alle zwei Jahre tagende Schülerparlament kann verschiedene Vorschläge unterbreiten.“

Das Bildungsministerium plant, ein Amt des Beauftragten für Bildungsrechte einzurichten. Dieser Beauftragte kann in den Schulen Untersuchungen durchführen und alle Eltern, Schüler und Lehrer haben das Recht, ihm mit ihren Beschwerden aufzusuchen. Aufgrund seiner Meldungen können solche Schritte notwendig werden, die die Stärkung der Schüler- und Studentenselbstverwaltungen bewirken. Liebe deutsche Schüler, wir setzen voraus: Bestimmt ist es in Deutschland ähnlich. Wenn nicht, fragt nach. Bei Edelgard Bulmahn.

Alice Bezzegi/Bea Kemler

Gymnasium Tolnai Lajos

Gyönk/Ungarn

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